Tag der seltenen Erkrankungen: Wie können digitale Services den Status Quo verbessern?
Im Atelier Belvedere sind unterschiedliche Expert*innen zusammengekommen, um das Thema der seltenen Erkrankungen anlässlich des internationalen Rare Disease Days (des Tags der seltenen Erkrankungen) am 29.02.2020 zu diskutieren. Die Diskutant*innen haben die Patient*innen-, Entrepreneur-, digitale und politische Perspektive eingebracht, um dieses komplexe Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu erfassen. Schon kurz nach Start der Diskussion wurde klar, dass es einen Paradigmenwechsel braucht, um ein solch vielschichtiges Thema in Angriff zu nehmen und, dass digitale Tools eine wichtige Rolle spielen, damit sich die Patient*innen gehört und verstanden fühlen.
Die Diskutanten:
- Roi Shternin, Health Entrepreneur und Patient Leader
- Martin Verdino, Founder von VERDINO
- Sherin Quell, Digital Marketing Consultant bei VERDINO
- Stefan Gara, Gesundheitssprecher der NEOS Wien
- Béatrice Verdino, Fondatrice von VERDINO
Hinweis: Das Gespräch wurde auf Englisch geführt und für diesen Beitrag ins Deutsche übersetzt. Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Text nicht konsequent gegendert, wobei immer weibliche als auch männliche Personen gemeint sind.
Roi Shternin
Health Entrepreneur und Patient Leader
Martin Verdino (MV): Roi, du hast dich selbst diagnostiziert, nachdem die Ärzte dich mehr oder weniger aufgegeben haben. Du leidest an einer relativ seltenen Erkrankung, die den meisten Menschen kein Begriff ist: Posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom kurz POTS.
Dein Weg von den ersten Symptomen bis zur Diagnose war sehr langwierig, wie so oft bei seltenen Erkrankungen. Das ist eine der Kernaussagen, die wir in ganz vielen Interviews mit Patienten, Angehörigen aber auch mit Ärzten hören. Und das nicht nur bei seltenen Erkrankungen –auch bei z. B. Psoriasis haben wir viele ähnliche Geschichten gehört. Darüber hinaus gibt es aber auch eine Vielzahl an Hürden und Problemen, mit denen Betroffene zu kämpfen haben.
Was sind aus deiner Erfahrung heraus die größten und wichtigsten Unterschiede zwischen seltenen und häufigeren Erkrankungen?
Roi Shternin (RS): Auf EU-Ebene gibt es grobe Kriterien, wodurch eine Erkrankung als eine seltene kategorisiert wird. Wenn 5 Personen von 10.0000 von einer Krankheit betroffen sind, handelt es sich dabei um eine seltene Erkrankung. POTS zum Beispiel betrifft 170 Personen pro 100.000 und erfüllt somit diese Vorgabe eigentlich nicht. Es wird hier ein Zahlenspiel gemacht, von dem Tausende ausgeschlossen sind. Wir haben Krankheiten mit einem sogenannten Superstar-Status (Krebs, MS oder Diabetes). Seltene Erkrankungen haben auch einen eigenen Status, aber diejenigen, die nicht unmittelbar zuordenbar sind, geraten in Vergessenheit. Für Personen mit seltenen Erkrankungen gibt es oftmals zumindest ein Forschungszentrum weltweit. Das ist für diejenigen, die weder an einer häufigen Erkrankung leiden, noch an einer seltenen, nicht der Fall.
Es ist absurd, wenn man sich vor Augen hält, wie große der Markt ist und wenn ich mir anschaue, dass in Israel eine Therapie für insgesamt nur 5 Kinder entwickelt wurde, die an einer seltenen genetischen Erkrankung leiden, wird mir bewusst wie schwierig diese Entscheidung sein muss. Ich meine, da muss man sich die Frage stellen „Was ist das Leben wert?" Und darauf gibt es fast keine befriedigende Antwort. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir die Probleme, die mit der Erkrankung einhergehen verstehen. Wenn wir untätig bleiben, verlieren wir Arbeitskräfte, Produktivität und Freude.
MV: Wie würdest du generell die Umstände beschreiben unter denen Menschen mit seltenen Erkrankungen leben? Vor dem Hintergrund, dass es wenige andere gibt, die unter derselben Erkrankung leiden, es zumeist auch wenige Experten gibt und diese –ohne korrekte Diagnose – auch nicht leicht zu finden sind?
RS: Ich beobachte im Gesundheitsbereich einen Kampf um Aufmerksamkeit. Patienten kämpfen für ihre Rechte und um Anerkennung und Ärzte sind oftmals überarbeitet und kämpfen dafür, dass sie genug Zeit pro Untersuchung zur Verfügung haben. Oftmals fehlen ihnen die passenden Tools. Wir befinden uns in einer Kommunikationskrise, die mit digitaler Unterstützung behoben werden kann. Manche Patientengruppen geraten in Vergessenheit und mit Einsatz von digitalen Tools und Servcices z. B. Social Media oder Chatbots können sie sich Gehör verschaffen.
Was das betrifft ist mir etwas für den DACH-Raum (Deutschland, Österreich, Schweiz) sehr spezifisches aufgefallen: Scham. Privatsphäre wird in diesen Ländern groß geschrieben und viele reden nicht über ihre Krankheit, weil sie sich dafür schämen und nicht wollen, dass andere davon erfahren. Es gibt eine Kluft zwischen Patienten, die Angst davor haben als solche erkannt zu werden, Selbsthilfeorganisationen, denen oftmals Ressourcen fehlen und dem Gesundheitssystem. Unter diesen Umständen bleiben die Betroffenen oft auf der Strecke.
Sherin Quell (SQ): Denkst du, dass Social Media eine Möglichkeit für Betroffene wäre, sich anonym über ihre Erkrankung auszutauschen?
Wir haben die Erfahrung gemacht, dass viele Patientenorganisationen Social Media (vor allem Facebook) einsetzen, um mit Hilfe von geschlossenen Gruppen Betroffenen einen Raum zu geben, um sich anonym über ihre Erkrankung und was damit einhergeht, auszutauschen.
RS: Ja, genau es ist vor allem eine gute Idee für Patientenorganisationen. Obwohl es auf Facebook die Möglichkeit gibt einen Fake-Account anzulegen, sehe ich einen großen Unterschied beispielsweise im Vergleich zu Israel, wo wir mit unserer Patientenorganisation tolle Ergebnisse beobachten. Derzeit haben wir 300 sehr aktive Patient*innen, die sich regelmäßig austauschen. Davon sind wir in Österreich noch weit entfernt.
SQ: Also denkst du, dass es mit dem kulturellen Background zusammenhängt, nicht über die Erkrankung sprechen zu wollen?
RS: Ja, ich bin überzeugt davon, dass es etwas Kulturelles ist. Rund um das Mittelmeer sind Menschen in der Regel aufgeschlossener, auch wenn es darum geht über ihre Erkrankung zu sprechen. In einem Gespräch ergibt sich das oft, dass ich auf POTS zu sprechen komme und mein Gegenüber erzählt über seine oder ihre Erkrankung. So tauschen wir Erfahrungen über Ärzte, Kliniken und ähnliches aus.
In Österreich hingegen sind Menschen sehr höflich mir gegenüber, wir schütteln uns die Hände, aber sie würden nicht mit mir über ihre Erkrankung sprechen. Meine Erfahrung nach knapp einem Jahr in Österreich hat mir gezeigt, dass Menschen hier viel introvertierter sind und weniger offen von ihrem gesundheitlichen Zustand erzählen. Ich spreche nicht von sichtbaren Erkrankungen, sondern von denen die unsichtbar sind und das macht einen Austausch über seltene Erkrankungen noch schwieriger.
Stefan Gara
NEOS Sprecher für Gesundheit, Klima und Forschung. Unternehmer seit 25 Jahren.
Roi und Martin sprechen gerade über die Situation in Österreich ausländische Start-Ups betreffend und dass die Hürden hierzulande oftmals die Niederlassung dieser Unternehmen und die Einreise hochqualfizierter Personen verhindert. Dieses Klima ist in anderen europäischen Ländern anders und demnach haben diese einen Vorsprung Österreich gegenüber, wenn es darum geht digitale Services und Tools im Gesundheitsbereich zu entwickeln. Stefan Gara schließt sich dem Gespräch an und bringt seine Perspektive ein.
Stefan Gara (SG): Hängt das mit der nationalen Gesetzgebung zusammen oder mit dem stärkeren Anstoß der anderen europäischen Städte Start-Ups anzuziehen?
RS: So wie ich es erlebe, hängt es mit der Gesetzgebung in Österreich zusammen.
SG: Wir sollten hier auf jeden Fall etwas ändern, weil wir die besten Köpfe nach Österreich holen müssen und sie dann auch hier halten sollten. Wir brauchen Menschen, die sich engagieren und etwas auf die Beine stellen können. Und wir brauchen eine stärkere Unternehmerkultur. Auch wenn es staatliche Hürden sind, denke ich, dass wir auf Stadtebene etwas verändern können. Wien positioniert sich als Stadt der Digitalisierung und genau da sollten wir anknüpfen. Wir bräuchten flexiblere Rahmenbedingungen, um Menschen die Möglichkeit zu geben ihr Unternehmen in Österreich aufzubauen.
RS: Ja, genau darum geht es. Ich merke, dass Wien großes Interesse hat innovative Start-ups anzuziehen, aber wenn es so schwierig ist ein Visum zu bekommen, dann bringen die Investitionen wenig. Ich bin fast von Wien nach Berlin gezogen, aber ich habe mich dagegen entschieden, weil ich hier einen Impact haben möchte.
SG: Welche europäischen Städte sind aus deiner Perspektive derzeit am attraktivsten für Start-ups?
RS: Berlin, München, Barcelona. Auch Stockholm startet gerade durch. Lissabon wird immer attraktiver für Start-ups. Ich sehe in Wien das Potential. Es gibt hier ein hohes Maß an medizinischer Forschung und auch den Wunsch, Innovationen voranzutreiben, aber es scheitert oft an den Rahmenbedingungen und am Mindset.
SG: Ja, ich sehe es genauso. Wir haben mit dem Wiener Krankenanstalten Verbund (KAV) den größten Gesundheitsdienstleister in ganz Europa. Wir haben sehr viele wertvolle Daten, die nicht für die Forschung genutzt werden können - ich sehe hier ein irrsinniges Potential. Es scheitert leider oft an den administrativen Hürden und Datensilos, da muss sich auf jeden Fall etwas ändern, damit im Gesundheitsbereich Innovationen leichter umgesetzt werden können.
MV: Roi, du bist ja nicht nur ein Betroffener von einer relativ seltenen Erkrankung, du bist ja auch ein sehr aktiver Unternehmer und Gründer. Womit beschäftigt sich dein Start-up genau?
RS: Mein Start-Up heißt Valero Clinical. Wir arbeiten in Tel-Aviv und New York. Wir entwickeln eine Technologie, die die medizinische Dokumentation automatisiert und damit Ärzte im unterstützt. Mit künstlicher Intelligenz möchten wir Ärzte ermöglichen, mehr Zeit mit dem Patienten oder der Patientin zu haben und weniger in administrative Tätigkeiten zu verschwenden.
Ein Arzt oder eine Ärztin in den USA klickt innerhalb von 15 Minuten, während der oder die Patient bei ihm in Behandlung ist, 600 Mal auf die Computer-Maus. Mit unserer digitalen Lösung wird die Behandlung qualitativer und es wird Zeit und Geld gespart. Zusätzlich gibt es die Möglichkeit Symptome als relevant zu markieren, die zu einer seltenen Erkrankungen passen würden und so die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass eine solche diagnostiziert wird.
Uns ist auch wichtig, dass der oder die Patient gut vorbereitet zum Arztgespräch erscheint, deshalb haben wir einen Fragebogen entwickelt, der vorab beantwortet werden kann. Das hilft dem Arzt oder der Ärztin die Behandlung zu planen. In Österreich ist die Situation etwas anders, aber ich denke, dass hier auch eine Automatisierung Sinn machen würde.
SG: Ja, auf jeden Fall. Wir brauchen aber in Österreich ein politisches Bewusstsein und den Umsetzungswillen dafür, dass wir dringend etwas an unserem Gesundheitssystem ändern müssen, wenn wir wollen, dass es weiterhin gut läuft. Unsere Gesundheitsversorgung ist viel zu spitalslastig und damit sehr teuer. Die Akutversorgung in den Krankenhäusern ist noch immer top, aber im niedergelassenen Bereich gibt es großes Verbesserungspotential.
RS: Wie kann in dem Bereich etwas erreicht werden und generell wie können digitale Services und Tools stärker gepusht werden?
SG: Zuerst braucht es einen Sinneswandel. Politiker und Politikerinnen müssen verstärkt ein Verständnis und eine Akzeptanz für digitale Innovationen bekommen und zwar heute und nicht in der Zukunft. Die digitalen Entwicklungen sind sehr schnell. Wir produzieren viel Papier mit allgemeinen Strategien und fokussieren wenig auf konkrete Umsetzungsprojekte. Wir bräuchten sogenannte Innovationslabore, Testräume um Entwicklungen agil voranzutreiben. Wie können wir den Rahmen dafür schaffen, dass Unternehmen nach Österreich kommen und wenn sie ihren Sitz in Wien haben auch auf die Daten zugreifen können? Selbstverständlich muss dabei strikter Datenschutz und Datensicherheit gewährleistet sein. Das wäre eine unglaubliche Motivation für Unternehmen sich in Wien niederzulassen. Diese Labore sollten in bereits existierenden Strukturen eingegliedert werden, ansonsten ist es nicht machbar. Wir brauchen ein agiles Umfeld, um dieses Ziel zu erreichen.
RS: Ich fände das einen sehr guten und richtigen Schritt. Ich habe oft das Gefühl, dass das Gesundheitssystem in Österreich als Best Practice dargestellt wird, obwohl das nicht immer der Fall ist. Ich habe schon einige schlechte Erfahrungen im niedergelassenen Bereich gemacht. Ich fühle mich oft durch die langen Wartezeiten alleine gelassen und würde mir wünschen, dass ich zwischendurch Updates oder Orientierung bekommen würde, um nicht so sehr im Dunkeln zu tappen.
SG: Ja genau, wir haben hier das Bild des Patienten, der alleine im Dunklen gelassen wird und mit digitalen Tools könnten wir hier Licht hinein bringen und Patienten helfen, sich weniger alleine gelassen zu fühlen.
BV: Hier liegt ein enormes Potenzial für digitale Services und Tools. Auch ein Blick auf andere Branchen, die hier oft deutlich weiter sind, kann uns dabei helfen. Unsere intensive Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen der unterschiedlichen Stakeholder und Betroffenen aber auch mit den Painpoints, die wir z. B. im Workshop bei unserem Health Innovation Friday im September herausgearbeitet haben, liefert hier bereits vielfältige Ansatzpunkte. Die Umsetzung gelingt aber nur gemeinsam mit Kunden und Partnern, die hier wirklich etwas weiterbringen wollen.
MV: Und diese digitalen Services funktionieren unabhängig von der Anzahl der Beteiligten und auch unabhängig vom Ort und von der Zeit. Gerade deshalb können solche Ansätze im Bereich der Seltenen Erkrankungen – aber eben nicht nur dort – das Leben der Betroffenen deutlich erleichtern. Von den ersten Symptomen, über den oft zu langen Diagnoseweg bis hin zum Leben mit der – sehr oft chronischen – Erkrankung.
Veröffentlicht am: 29.02.2020
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